Warum wir Lyrik brauchen

Warum Lyrik das Gegengift zu Apathie und Resignation ist – wenn wir sie nur lassen.
Lyrik-Musik-Performance: Nicola Gold an der Schreibmaschine, daneben ein Kontrabassist

Ich weiß nicht, wer einmal sagte: In der Prosa erschaffen wir eine neue Welt, in der Lyrik tauchen wir tief in unsere bestehende Welt ein. Dafür muss man sie lieben, und das ist immer wieder eine Herausforderung. Aber genau deshalb brauchen wir die Lyrik, und genau deshalb ist sie immer zeitgemäß und zeitlos.

Als Lyrikerin bewege ich mich mit offenen Augen und Ohren durch die Welt. Ich bin aufmerksam. Ich beobachte, ich lausche, ich spüre, ich rieche. Und jede Wahrnehmung ist wie ein Tor. Oder wie ein Türchen eines Adventkalenders, hinter dem sich eine Überraschung verbirgt. Und die entdecke ich im Akt des Schreibens

Ein Apfel kann ein Gedicht über Geborgenheit inspirieren.
Ein Herbstlauf durchs Herbstlaub eines über Angst.
Ein Gedicht kann wie Medizin sein, es kann wachrütteln und es kann die politische Lage pointiert zusammenfassen.

Gedichte lassen zwischen den Worten viel Luft, sie arbeiten mit Bildern und Symbolen und Metaphern, so dass die Leser*innen ihre Bedeutung detektivisch entschlüsseln und gleichzeitig für sich selbst erspüren und ihre eigene Geschichte hinein-erfinden können.

In der Lyrik arbeiten wir mit Klang und Rhythmus und manchmal auch mit der Positionierung der Worte und Buchstaben auf dem Papier. Im besten Fall unterstützt das die Atmosphäre, die wir schaffen wollen. So wird ein Gedicht zum ganzheitlichen Erlebnis.

Die Aufmerksamkeit, Offenheit und Konzentration, die es beim Schreiben braucht, braucht es auch beim Lesen. Das trainiert den unsichtbaren Muskel, der das Wahrnehmen mit dem Spüren und Verstehen und Verarbeiten verbindet.

Lyrik ist das Gegengift zu Oberflächlichkeit und Herumhetzen, zu Doomscrolling, Apathie und Resignation. Wer sich tief mit einem Gedicht beschäftigt, beschäftigt sich mit sich und mit der Welt und lernt immer etwas dazu. Gedichte müssen nicht verstanden werden, sie müssen nicht gefallen. Dazu sind sie zu cool. Sie stehen für sich, stellen sich zum Lesen zur Verfügung und was wir damit tun, ist unsere Sache. Es liegt an uns, die Schätze zu entdecken, die sie bergen.